In diesem Abschnitt werden Bewegungen zusammengefaßt, die in erster Linie der Samen- und Sporenausbreitung dienen und die deshalb - aber nicht ausschließlich - bei Früchten, Samen und Sporenkapseln zu beobachten sind. Dabei haben wir zwischen irreversiblen Turgorerscheinungen lebender Zellen und Quellbewegungen (Volumenänderungen der Zellwand) zu unterscheiden. Letztere können auch bei toten Zellen beobachtet werden.
Irreversible Turgorbewegungen entstehen überall dort, wo sich ein osmotischer Druck aufbaut, der durch physiologische Vorgänge nicht wieder rückgängig zu machen ist. Nach Überschreiten eines Schwellenwertes kann er daher das Reißen von Geweben und dadurch bedingte explosionsartige Bewegungen hervorrufen. Zwei eindrucksvolle Beispiele dafür:
- Die Schleuderbewegungen der Früchte aller Arten der Gattung Impatiens ("Rühr mich nicht an") und
- die Spritzbewegung der im Mittelmeerraum verbreiteten Spritzgurke Ecballium elaterium.
Zum ersten Beispiel: Durch anatomische Untersuchungen wurde gezeigt, daß es präformierte Bruchstellen gibt, die die Bewegungsrichtung festlegen. Die Samen werden im oberen Teil der Frucht an der Innenseite der Fruchtwand gebildet. Im unteren Teil beginnen die außen liegenden Zellschichten sich auszudehnen, werden daran aber durch ein innen liegendes Widerstandsgewebe gehindert. Die äußeren Zellschichten bezeichnet man als Schwellgewebe. Nach Erreichen des maximalen Turgordrucks (9-14 Bar) reißen die Längsverbindungen zwischen den Fruchtblättern, die nunmehr freien Fruchtblätter rollen sich schlagartig ein und schleudern die an ihnen sitzenden Samen unter Ausnutzung einer Hebelwirkung fort. Die durch das Reißen des Gewebes freiwerdende Energie (Gewebespannung) wird also zur Verbreitung der Samen genutzt.
Vergleichbare Erscheinungen findet man bei den Staubblättern einiger Arten (z.B. bei Pellionia daveauana). In einer frühen Phase der Entwicklung der Filamente wächst die Unterseite schneller als die Oberseite. Die dabei entstehende Zugspannung kann durch verstärktes Wachstum der Oberseite in einer zweiten Entwicklungsphase nicht mehr gelöst werden, da die Antheren an ihrer Basis miteinander verklebt sind. Sobald sich der Verband löst, schnellen die Filamente explosionsartig nach außen.
- Benötigt wird ein unter überdurchschnittlich hoher Spannung stehendes deformierbares Bewegungsgewebe.
- Ein Widerstandsgewebe muß den Ausgleich der elastischen Spannung anfangs verhindern.
- Es muß schließlich die Möglichkeit geben, den Widerstand zu beseitigen (Reißen des Gewebes an Sollbruchstellen)
- Die Gewebeteile, Organe, oder Einheiten, die bei der Explosion losgelöst und verteilt werden sollen, müssen spezifisch (optimal) angeordnet sein.
Die pflanzliche Zellwand ist aus mehreren übereinanderliegenden Celluloseschichten aufgebaut (Texturierung), wobei die Orientierung der Cellulosefibrillen sich von Schicht zu Schicht ändert, hier nur angedeutet durch die Begriffe Quertextur, Längstextur, Schraubentextur. Außer Cellulose enthält die Wand weitere Strukturelemente (fibrilläre Makromoleküle), deren Anteil von Schicht zu Schicht unterschiedlich sein kann. Wie alle hydrophilen Makromoleküle können sie Wasser anlagern und vergrößern damit ihr Volumen (Hydratation, Quellung). Aufgrund von Unterschieden in der Quellbarkeit (Kapazität, Wasser zu binden bzw. anzulagern), können die beteiligten Molekülklassen in die folgende Reihenfolge gebracht werden:
Pektin > Hemicellulose > Cellulose > Lignin.
Wenn nun aber Schichten unterschiedlicher Quellbarkeit eng miteinander verzahnt sind, verlängern oder verkürzen sie sich in unterschiedlichem Maße, woraus Spannungen resultieren, die eine Krümmung der Zellen und damit auch der Gewebe nach sich ziehen.
Wohlgemerkt: Wichtig ist hierbei allein der Hydratationszustand der Zellwand bzw. einzelner Zellwandschichten, wobei die Feuchtigkeitsmenge der Atmosphäre genügt, um unter Spannung stehende Zellen (oder Gewebe) zu verformen und ggf. zum Reißen zu bringen. Das Zellplasma ist, sofern überhaupt noch vorhanden, unbeteiligt.
Das Öffnen und Schließen mancher Samenkapseln, die Bewegung spezialisierter Ausbreitungsvorrichtungen einiger Samen, die Peristombewegungen der Laubmoose und Torsionen der Fruchtblätter vieler Leguminosen, sind Ausdruck geänderter Hydratationszustände (=hygroskopische Bewegungen). Auch alles, was in der Holzverarbeitung unter dem Satz "Das Holz arbeitet" verstanden wird, beruht auf lokal ungleichmäßigen Änderungen des Hydratationszustandes, die Spannungen erzeugen und das Holz zum Reißen bringen können.
Asymmetrischer Bau der Zellwand und die Oberflächenspannung des Wassers verursachen noch eine weitere Art der Bewegung, die sogenannte Kohäsionsbewegung. Das klassische und deshalb in nahezu allen Botaniklehrbüchern zitierte Beispiel ist der Öffnungsmechanismus von Farnsporangien. Die Zellen der (einschichtigen) Wand sind dünn. Eine Ausnahme bilden nur die des Anulus, der das Sporangium meridian wie ein fast geschlossener Reifen umgibt. An der Vorderseite des Sporangiums bleibt ein präformierter Bereich (Stomium) ausgespart.
Die Innenwände und die Radialwände zwischen benachbarten Anuluszellen sind verdickt, alle Außenwände sind dünn und elastisch. Während der Reifung des Sporangiums verlieren die Zellen Wasser, und durch Kohäsion des verbleibenden Rests, bei gleichzeitiger Adhäsion an die Wände, wird die dünne Außenwand nach innen gezogen. Daraus ergibt sich eine Wandspannung, die sich auch auf die Radialwände überträgt und damit bewirkt, daß sie sich einander nähern. Da das gleichzeitig in allen Anuluszellen geschieht, entsteht eine Gewebespannung, die zum Reißen des Sporangiums im präformierten Abschnitt führt, und so die Herausschleuderung der Sporen bewirkt. Durch nachfolgenden Lufteintritt in die Anuluszellen wird die Kohäsionskraft des Wassers überwunden, die Zellen und damit der ganze Anulus nehmen wieder ihre Ausgangsstellung ein. Ein Austausch der Luft durch Wasser kann den gesamten Vorgang erneut in Bewegung setzen.
Ein anderes Beispiel ist der Hydratationsprozeß von Samenhaaren einer Lythracee. Die elektronenmikroskopische und rasterelektronenmikroskopische Analyse ergab, daß es sich bei der Hydrierung um einen Ausstülpungsprozeß handelt, durch den ein feuchtes Haar gegenüber einem trockenen an Länge gewinnt.
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