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Kybernetik: Systeme, Steuerung, Regelung, Information und Redundanz




Aufbauprinzip eines Systems aus Untersystemen, Systemelementen und Wechselbeziehungen zwischen diesen. Ein undurchschaubares Systemelement kann als eine black box betrachtet werden.


Im Englischen gibt es den Begriff control (Kontrolle), wobei zwischen Regelung und Steuerung nicht unterschieden wird. Im Deutschen sind die beiden Begriffe klar definiert und gegeneinander abgesetzt. Steuerung verhält sich zu Regelung wie eine Gerade zu einem Kreis. N. WIENER prägte 1948 den Begriff Kybernetik. Er bezeichnet damit die Wissenschaft von der Kontrolle und Information, ganz gleich ob es sich um lebende Organismen oder Maschinen handelt. Regelphänomene sind in der Biologie weit verbreitet. Es gibt im Grunde genommen kein lebendes System (Zelle, Organismus, Ökosystem), das nicht geregelt ist. Alle daran beteiligten Größen stehen in direkter oder indirekter Beziehung zueinander und formen damit ein Netz gegenseitiger Abhängigkeiten.

Was ist ein System?

Unter einem System faßt man Funktionselemente (Funktionseinheiten, Funktionsglieder) sowie deren Wechselwirkungen untereinander zusammen. Die funktionellen Beziehungen der Systemelemente bedingen die besonderen Eigenschaften und Leistungen eines Systems: die Systemeigenschaften. Zu ihrer Veranschaulichung können die einzelnen Systemelemente zu einem Blockschaltbild zusammengefaßt werden, denn Blockschaltbilder sind instruktive Hilfsmittel, um sich eine Übersicht über die Art der Systemelemente und ihre Verknüpfungen untereinander zu verschaffen. Sie bilden die Grundlage für eine weitere systemanalytische Auswertung der Daten. Sie dienen der Inventur von Sachverhalten und sind ein Abbild eines Wirkungsgefüges. Es gibt eine Fülle von Strukturen und Prozessen in der Biologie, die sich derart darstellen lassen..

Ein System kann in eine Anzahl von Systemelementen untergliedert werden. Wichtig ist dabei die Unterscheidung von Systemelementen auf gleicher Hierarchieebene von solchen auf unter- bzw. übergeordneten Ebenen. Systeme auf untergeordneter Ebene sind Teilsysteme eines höherrangigen Systems. Lebende Systeme z.B. lassen sich in folgender Hierarchie anordnen:

Zellen - Vielzellige Organismen - Lebensgemeinschaften - Ökosysteme.

Das System "Zelle", das hier auf rangniedrigster Stufe steht (Zellen sind die Grundeinheit aller Lebewesen), ist seinerseits aus nichtlebenden Molekülen aufgebaut. Aufgrund ihrer Komplexität und Größe unterscheidet man zwischen den kleinen Molekülen und den Makromolekülen. Makromoleküle können in der Zelle (oft unter Mitwirkung kleiner Moleküle) zu supramolekularen Komplexen vereint sein: den Ribosomen, Chromosomen, Membranen u.a. Auf nächst höherer Organisationsstufe stehen die Organellen: Mitochondrien, Chloroplasten u.a.

Alle diese Komponenten einschließlich aller Wechselwirkungen, die sie untereinander eingehen, machen die Systemeigenschaften einer Zelle aus. Um das System "lebende Zelle" zu erklären, bedarf es daher neben einer vollständigen Liste aller Komponenten (Art und Anzahl) einer Liste aller Wechselwirkungen, mit anderen Worten aller Stoffwechselaktivitäten der Zelle. Diese Forderungen übersteigen unsere Möglichkeiten, und wir müssen uns daher vorerst mit Teilantworten begnügen. Wie wir aber noch sehen werden, stehen uns mit der Systemtheorie Möglichkeiten zur Verfügung, auch unvollständige Datensätze als Basis für zuverlässige Aussagen zu nutzen.

Lebende Systeme sind unentwegt darauf angewiesen, Energie und Nährstoffe aus ihrer Umgebung aufzunehmen, Exkretionsprodukte abzugeben und in einer bestimmten Weise zu reagieren. Zellen sind daher ebenso wie alle anderen biologischen Systeme als offene Systeme zu klassifizieren, die sich durch Ein- und Ausgänge (bzw. Eingangs- und Ausgangssignale) und ein zwischengeschaltetes Übertragungselement (einen Wandler) auszeichnen. Sie befinden sich niemals in einem stationären, sondern stets in einem Fließgleichgewicht (steady state). Solange wir nichts darüber wissen, was sich in einem Übertragungselement (in unserem Falle wäre das die Zelle) tut, kann man es im Sinne der Systemtheorie als black box betrachten. Durch die Beziehung zwischen Eingangs- und Ausgangssignal charakterisiert man einen Informationsfluß durch das System. Über den Eingang kann eine physikalische oder chemische Energie auf ein System einwirken und damit gewisse Änderungen in ihm hervorrufen, die über den Ausgang wiederum in Form physikalischer oder chemischer Energie auf andere Systeme oder Systemelemente einwirken können. Für eine kybernetische (systemanalytische) Betrachtungsweise ist jedoch weder die innere Struktur des Übertragungssystems (im Fall Zelle: die oben aufgeführten Forderungen) noch die Energieform wichtig. Entscheidend ist allein der zeitliche Verlauf von Eingangs- und Ausgangssignal sowie der Zusammenhang zwischen beiden Signalen.

Übertragungselemente bzw. -systeme arbeiten im einfachsten Fall linear; Eingangs- und Ausgangssignal wären damit einander proportional. Ihre Arbeitsweise ist in der Regel jedoch wesentlich komplexer, wodurch das Ausgangssignal in seiner Form merklich verändert wird. Solche Formveränderungen lassen sich mathematisch erfassen und können durch Gleichungen beschrieben werden, wobei es sich vornehmlich um Differential- und Integralgleichungen erster oder höherer Ordnung handelt. Demzufolge kann das Ausgangssignal jede beliebige Form annehmen.

Zu den Systemeigenschaften einer pflanzlichen Zelle gehört u.a. das Wachstum. Wir können es daher als einen Ausgang betrachten. Als Eingänge wären chemische und physikalische Größen (Nährstoffe, Licht, Temperatur u.a.) zu berücksichtigen. Da eine pflanzliche Zelle im Gewebeverband selbst aber auch nur ein Teilsystem ist, hängt ihre Reaktion auch vom Verhalten benachbarter Zellen ab. Wie wir bereits gesehen haben, kann Wachstum allein schon deshalb nicht durch eine konstante Größe charakterisiert werden, und es gibt auch keine mathematische Formulierung, die für alle Zellen in einem pflanzlichen Gewebe gleichermaßen verbindlich wäre.

Ein ganz wichtiger Faktor der Beschreibung von Übertragungssystemen ist die Zeit. Ein Eingangssignal kann zeitlich verzögert zu einem Ausgangssignal führen. Übertragungssysteme können daher - sofern sie selbst komplex strukturiert sind - über ein Gedächtnis verfügen, in dem Eingangssignale additiv oder multiplikativ verrechnet werden.

Das System kann dann z.B. so reagieren, daß die Eingangssignale zuerst eine bestimmte Schwelle überschritten haben müssen, bevor es zu einem Ausgangssignal kommt. Jedes System verfügt aber nur über eine eingeschränkte Kapazität. Daraus folgt, daß das Eingangssignal nicht zu stark sein darf, ohne die Funktion des Systems reversibel oder irreversibel zu schädigen. Eine zu hohe Temperatur z.B. zerstört eine Zelle und damit alle ihre Systemeigenschaften. Zum Verständnis des Systems "Zelle" gehört daher nicht allein ein Wissen über den qualitativen Ablauf der Wirkzusammenhänge, sondern es sind noch eine Reihe fester und variabler Größen mit zu berücksichtigen. Hierzu gehören u.a. die chemischen Reaktionszeiten, die Zeiten für die Signalübertragung, die Diffusions- und Permeabilitätskonstanten, ferner bestimmte Verstärkerfaktoren, die den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung quantitativ beschreiben, z.B. den Einfluß eines Katalysators (Enzyms) auf die Reaktionszeit. Die Messung solcher Größen innerhalb eines funktionierenden Systems ist außerordentlich schwierig, da diese Messungen nicht ohne Störung des Reaktionsablaufs erfolgen können. Doch gerade hier liegt die Stärke eines mathematischen Ansatzes. Durch ihn ist es möglich, auch interne Größen zu berücksichtigen. In Modellrechnungen lassen sich zahlreiche Parameter variieren, um auf diese Weise das Verhalten des Systems zu simulieren, seine Leistungsgrenzen abzustecken und gegebenenfalls Voraussagen über zukünftige Entwicklungen, beispielsweise über ein Fehlverhalten, zu treffen. Für den Funktionsablauf eines Systems kommt es nämlich gar nicht so sehr darauf an, welche Mechanismen eingesetzt werden, sondern vielmehr, welche Leistung hervorgebracht wird. Von dieser Prämisse ausgehend, ist es zweckmäßig, ein Modell zu konstruieren, um das Wesen eines komplexen Systems zu verstehen. Je mehr Eigenschaften (einschließlich der Grenz- und Fehlleistungen) zwei Systeme (Original und Modell) gemeinsam haben, desto ähnlicher sind sie sich auch hinsichtlich ihrer Funktionselemente.

Obwohl solchen Betrachtungen von der Mathematik her kaum Grenzen gesetzt sind und viele mathematische Überlegungen im technischen Bereich realisierbar sind, ist es - wie die vorangegangenen Ausführungen zeigen sollten - außerordentlich schwierig, biologische Übertragungssysteme durch eine einfache mathematische Formel zu beschreiben. Ein Mathematiker kann ein System entwickeln, das bestimmte Eigenschaften eines lebenden Systems aufweist, es bleibt aber noch weit davon entfernt, alle Eigenschaften eines lebenden Systems zu zeigen.

Man unterscheidet zwischen deterministischen und probabilistischen (stochastischen) Systemen. Bei den deterministischen wirken die Elemente in vorhersehbarer Weise aufeinander ein (Beispiel: technische Maschinen). Probabilistische Systeme sind nicht voll durchschaubar; somit ist ein Ereignis lediglich wahrscheinlich, doch nie exakt vorherzusagen. Lebende Systeme sind durchweg probabilistisch, denn wir kennen zum einen nicht alle ihre Systemelemente, und stets bestehen sie aus Teilsystemen unterschiedlicher Funktionsebenen.

Systemtheoretische Ansätze dienen vor allem dazu, dynamische Prozesse zu erklären und den Verlauf von Material-, Energie- und Informationsflüssen zu verfolgen. Sie sind, wie noch dargelegt werden wird, besonders nützlich, um ökologische Zusammenhänge zu verstehen. Pflanzen gelten in allen Ökosystemen als Primärproduzenten, denn nur sie sind dazu in der Lage, Sonnenenergie in nennenswertem Umfang in chemische Energie umzuwandeln. Konsumenten, vornehmlich Tiere, benötigen die von Pflanzen gewonnene chemische Energie zum eigenen Wachstum und Überleben. Energieflüsse dieser Art bilden daher entscheidende Größen zur Beschreibung von Ökosystemen.

Bei dieser Betrachtung wird ganz außer acht gelassen, wie die Pflanze die Energie umwandelt, welche Pflanzenarten besonders effizient sind und welchen Anteil eine bestimmte Pflanzenart am Energiefluß hat. Diese und noch viele weitere Probleme werden in die black box "Pflanze" gesteckt, denn für den Konsumenten ist nur die Energiemenge, bzw. die Qualität des Produkts von Interesse. Dieses Beispiel mag stellvertretend für eine systemtheoretische Arbeitsweise stehen. Man betrachtet dabei nicht alle Komponenten und Wechselwirkungen zugleich, sondern filtert nur eine bestimmte Fragestellung heraus, die mit gegebenen Mitteln lösbar ist.


© Peter v. Sengbusch - b-online@botanik.uni-hamburg.de