Primitiv und fortentwickelt sind relative Bewertungen. Sie sind wertlos, solange man sie nicht auf einen bestimmten Standard bezieht. Für jedes Taxon, für jede phylogenetische Verwandtschaftsgruppe und Abstammungslinie, sind die Bewertungen neu festzulegen. Als primitiv gilt dabei das, was ursprünglich (bei den Vorfahren) ausgeprägt war, fortentwickelt ist jenes, was deren Nachkommen erwarben. Selbst wenn man sich bei einem bestimmten Merkmalspaar darüber im klaren ist, was primitiv und was abgeleitet ist, kann es je nach Situation entweder zur Unterscheidung zweier Arten, zweier Gattungen oder zweier Familien herangezogen werden.
Dazu nur ein Beispiel: Holzpflanzen (primitiv) - Kräuter (abgeleitet). Das Merkmalspaar ist geeignet, die beiden Arten Mimulus longiflorus und Mimulus clevelandii, die beiden Gattungen Zanthorhiza und Coptis (Ranunculaceen) und die beiden Familien Myrsinaceae und Primulaceae voneinander zu unterscheiden.
Wie schon im vorigen Thema abgeleitet, erfolgt die Evolution auf den unterschiedlichen Organisationsebenen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. So wird z.B. die Gattung Delphinium zu den insgesamt gesehen primitiven Ranunculaceae gestellt. Wie bei den übrigen Gattungen dieser Familie sind die vegetativen Merkmale primitiv ausgebildet, es bestehen cytologische Gemeinsamkeiten mit den übrigen Gattungen. Die Delphinium-Blüte hingegen ist hochgradig spezialisiert: Zygomorph mit nektarenthaltendem Sporn, so wie wir es sonst bei hochentwickelten Familien (Scrophulariaceae, Labiatae) antreffen. Gerade bei primitiven Familien findet man oft, daß einzelne Merkmale wesentlich höher entwickelt sind als die übrigen. Bei hochentwickelten Familien, so z.B. bei den gerade genannten, findet man kaum noch ursprüngliche Merkmale.
Die Merkmale am Vegetationskörper der Angiospermen können in vier Komplexe untergliedert werden, die sich unterschiedlich schnell fortentwickeln:
Merkmale in jeder dieser Gruppen sind adaptiv; sie unterliegen aber unterschiedlichen Selektionskriterien. Wegen der damit zusammenhängenden unterschiedlichen Evolutionsgeschwindigkeiten einzelner Komponenten ist es oft sehr schwierig zu entscheiden, welches von zwei Taxa das fortschrittlichere ist. Um überhaupt zu sicheren Aussagen zu kommen, müssen möglichst viele Merkmale gleichzeitig bewertet werden. Wenn man das tut, läßt sich die bereits aufgestellte Behauptung, die Ranunculaceae seien primitiv, die Labiatae und Scrophulariaceae abgeleitet, belegen. Zusammenfassend lasen sich die wichtigsten Trends innerhalb der Angiospermenevolution als Liste zusammenstellen.
Weitere Schwierigkeiten: Die Evolutionsrate einzelner Merkmale variiert in den einzelnen Stammeslinien. Ein wenig spezialisiertes Taxon kann wesentlich jünger als ein spezialisiertes sein, weil letzteres sich schneller als das erste verändert.
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