Da das weibliche und männliche Geschlecht im Pflanzen- und Tierreich vielfach in ungefähr gleichem Verhältnis (oft 1:1) auftritt, lag der Gedanke nahe, daß auch die Geschlechtsbestimmung durch Faktoren gesteuert wird, die nach Mendelschen Regeln vererbt werden. Ein 1:1-Verhältnis kommt, wie schon das Beispiel der Heterostylie bei Primeln zeigte, durch kontinuierliche Rückkreuzungen zwischen einer heterozygoten und einer homozygoten Form zustande, oder anders ausgedrückt, bei Kreuzung eines Individuums, das zwei Sorten Keimzellen (Gameten) in gleicher Zahl erzeugt, mit einem anderen Individuum, das lauter gleiche Gameten bildet. C. CORRENS legte diese Überlegung einer Serie von Kreuzungsexperimenten mit einer Reihe von Pflanzenarten zugrunde und bewies durch Kreuzungen monözischer (einhäusiger), zwittriger mit diözischen (zweihäusigen) Pflanzenarten, daß eine Vererbung des Geschlechts tatsächlich nach dem Muster einer Rückkreuzung erfolgt.
Das bekannteste Beispiel ist seine Analyse der Spaltungszahlen bei den Zaunrübenarten Bryonia alba und Bryonia dioica. Bryonia alba ist zwittrig, d.h., in jeder Blüte sind Staubgefäße und Stempel enthalten. Jede Pflanze ist also zugleich weiblich und männlich Bryonia dioica ist zweihäusig. Auf weiblichen Pflanzen findet man nur stempelhaltige Blüten, auf männlichen nur staubfadentragende.
Durch Kreuzungen entstehen:
(I) Bryonia alba weiblich (männlich) x Bryonia alba männlich (weiblich)
Fl: 100% Bryonia alba (weiblich, männlich)
(II) Bryonia dioica weiblich x Bryonia alba männlich (weiblich).
Fl: 100% Bastard weiblich
(III) Bryonia alba weiblich (männlich) x Bryonia dioica männlich.
Fl: 50% Bastard weiblich + 50% Bastard männlich
(IV) Bryonia dioica weiblich x Bryonia dioica männlich
F1: 50% Bryonia dioica weiblich + 50% Bryonia dioica männlich
Hieraus zog CORRENS folgende Schlüsse: Die beiden Kreuzungen einer weiblichen Pflanze mit einer männlichen der gleichen Art (I und IV) registrieren das normale Verhalten in der Natur und dienen daher als geeignete Kontrollen. Bei I (Bryonia alba) entstehen nur zwittrige Bryonia alba-Nachkommen. Bei IV (Bryonia dioica) erhält man eine Trennung der beiden Geschlechter im Verhältnis 1:1. Auffallend sind die Ergebnisse der reziproken Kreuzungen zwischen beiden Arten. Wenn, wie bei II Bryonia dioica weiblich, Bryonia alba männlich ist, entstehen ausschließlich weibliche Artbastarde. Diese Ergebnisse sind widerspruchsfrei unter der Annahme erklärbar, daß Bryonia dioica (weiblich) ebenso wie Bryonia alba (bei der ja keine Geschlechtertrennung vorliegt) lauter gleiche, in bezug auf das Geschlecht entscheidende Anlagen produziert. In der reziproken Kreuzung (III) hingegen erhält man eine Aufspaltung, weil sich Bryonia dioica (männlich) in bezug auf den geschlechtsbestimmenden Faktor wie heterozygote Bastarde verhalten und daher zwei Gametentypen erzeugen. Daraus folgt, daß das männliche Geschlecht bei Bryonia dioica heterozygot, das weibliche homozygot ist.
Diese Aussage konnte nachfolgend auf etliche Pflanzen- und nahezu alle Tierarten ausgedehnt werden. Wie später noch dargelegt wird, ist der geschlechtsbestimmende Faktor nicht ein einzelnes Gen, sondern eine Gruppe von Genen, die an die Existenz von Geschlechtschromosomen (X, Y) gebunden sind. In der Regel ist das weibliche Geschlecht durch XX, das männliche durch XY charakterisiert. Ausnahmen kommen vor, bei Vögeln beispielsweise ist die Situation genau umgekehrt. Manchmal fehlt das Y-Chromosom. Der Genotyp wäre dann X0 (0 = Null). Geschlechtschromosomen sind bei Tieren leicht auseinanderzuhalten, für die meisten höheren Pflanzen trifft das jedoch nicht zu. Die hier beschriebene Geschlechtsbestimmung gilt für diözische Pflanzen, die meisten Arten jedoch sind zwittrig (monözisch; gleichzeitig weiblich und männlich), d.h., Gynoeceum und Androeceum sind auf ein und derselben Pflanze ausgebildet. Es entfällt in der Regel auch die Ausprägung spezieller Geschlechtschromosomen. Vermerkt sei, daß es von vielen, üblicherweise monözischen Pflanzen, diözische Formen (Mutanten) gibt und daß innerhalb vieler Gattungen eine Art monözisch, eine nah verwandte diözisch sein kann.
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